– – Ein indischer Philosoph über das Problem der Armut – –
Ihre Aussagen über Armut sind überraschend und provozierend. Wie kommt es, dass Sie sich mit diesem Thema befasst haben? –
„In Indien gibt es viele Arme; aber erst nachdem ich Christ geworden war, bin ich auf den Gedanken gekommen, dass man armen Menschen helfen sollte. Da erst habe ich wahrgenommen, wie es ist, wenn jemand Hunger und Krankheit aushalten muss. In der indischen Gesellschaft gibt es wenig Mitleid und wenig Bereitschaft, sich für andere einzusetzen.
Ich habe also erst als Christ festgestellt, dass es zwischen Armut, Unterdrückung, Tod und Ausbeutung Zusammenhänge gibt. 1976 sind wir nach Zentralindien aufs Land gezogen, um zusammen mit den Armen zu leben, ihnen zu helfen und um die Ursachen der Armut zu studieren; aus diesen Hilfs- und Entwicklungsprojekten hat sich ein breiteres soziales und politisches Engagement entwickelt. Gleichzeitig habe ich auch evangelisiert und in den Dörfern Hausgemeinden gegründet. Von 1988 an habe ich mich auch in der Politik stärker engagiert.
Wir haben also aus nächster Nähe Armut miterlebt und uns bemüht, sie zu bekämpfen: Mit medizinischen Hilfsprogrammen und mit Verbesserungen in den Produktionsmethoden für den Gemüseanbau haben wir begonnen. Dann ging es weiter mit Verbesserungsprogrammen für die Milchwirtschaft und Geflügelzucht. Wir haben wir uns mit Baumwolle und der damit verbundenen Industrie befasst, um den Leuten zu helfen, wie sie neue Methoden lernen und dadurch neue Produktionszweige aufbauen können – z. B. neue Webmethoden für Decken und Teppiche. Das Nächste waren Bildungsprojekte; dann ging es um Kartoffeln. Ich bin zwar kein Wirtschaftsfachmann im engeren Sinn, aber ich musste mich auch mit den wirtschaftlichen Zusammenhängen befassen, die dazu führen, dass Menschen arm sind.“
Was ist das Ergebnis Ihrer Forschungsarbeit?
„Für viele mag es ungewöhnlich oder provozierend klingen, aber ich bin überzeugt: Die zentrale Ursache für Armut ist die Sünde. Allerdings haben viele keine Ahnung davon, was Sünde tatsächlich ist; es gibt so viele oberflächliche und primitive Vorstellungen vom Wesen der Sünde. Aber das, was die Bibel über Sünde sagt, ergibt ein vielschichtiges Bild: Sünde hat mit den sozialen, moralischen und intellektuellen Dimensionen des Lebens zu tun; es geht hier auch um die Wirkung von Kräften, die über die natürlichen Zusammenhänge hinaus gehen.
Natürlich stimmt es auch, dass Unwissenheit und Unterdrückung zu Armut führen, auch die Regeln und Gesetze, die einen Staat steuern, können Armut hervorrufen. Aber die Grundursache, die hinter all dem steckt, ist – philosophisch betrachtet – immer die Sünde.“
Wie sind Sie zu dieser Überzeugung gekommen?
„Das will ich mit einer Geschichte veranschaulichen: 1977 gab es in unserer Gegend eine Überschwemmungskatastrophe. Damals sind Leute zu mir gekommen mit der Nachricht, dass ihre Häuser und Tiere weggeschwemmt worden waren, und haben gefragt: „Können Sie bitte kommen und ein Hilfsprogramm starten?“
Ich bin also in ihr Dorf gegangen. Dort am Fluss habe ich festgestellt, dass ein Tempel in der Mitte des Flusses stand, der 1000 Jahre alt war – der Stolz des ganzen Dorfes. Ich habe gefragt: „Warum seid ihr arm?“ Sie sagten: „Wir haben jetzt 10 Jahre lang hart gearbeitet und Häuser gebaut, Kühe gekauft, haben versucht, Geld zusammenzusparen – und nun ist die Überschwemmung gekommen und hat alles weggespült. Und deshalb sind wir arm.“
Ich habe dann zu ihnen gesagt: „Vor 1000 Jahren hatten unsere Vorfahren die Fähigkeit, mitten im Fluss einen Tempel zu errichten, der 1000 Jahre lang dem Wasser standgehalten hat. Hatten die Leute damals wohl auch die Fähigkeit, am Ufer Häuser zu bauen, die das Hochwasser aushalten können?“ – „Ja, das hätten sie gekonnt; aber das war nicht erlaubt.“
„Was meint ihr: Konnten sie auch Dämme und Kanäle bauen?“ – „Natürlich konnten sie das!“ – „Aber warum haben sie keine Dämme und Bewässerungskanäle angelegt? Wenn sie es gemacht hätten, dann wären wir reicher als Deutschland und die Schweiz. Schließlich kann man bei uns vier Ernten im Jahr einbringen, wenn man die Bewässerungsfragen löst. – Und warum haben sie einen Tempel gebaut? Haben sie den Fluss als ein göttliches Wesen verehrt und gefürchtet?“ – „Ja, natürlich! Der Fluss ist doch unsere Mutter, die uns Leben gibt und die uns den Tod gibt, wenn sie zornig ist. Und deshalb wurde der Tempel gebaut: Wir fürchten und verehren den Fluss als unsere Mutter.“
Diese Menschen wussten nicht, wer sie sind und wie ihre Beziehung gegenüber dem Fluss in Wirklichkeit ist bzw. sein sollte. Wenn wir Gott nicht kennen, ist unklar, ob wir Menschen über einen solchen Fluss Herrschaft ausüben dürfen oder ihn anbeten sollen: Sind wir für den Fluss da – oder wurde der Fluss für uns geschaffen?
Die erste Sünde besteht darin, dass der Mensch etwas anderes als Gott anbetet. Wir sollen uns keine Götzen machen. Einer der vielen Gründe dafür ist, dass wir die Schöpfung richtig verstehen sollen: Wir sollen die Natur nicht anbeten, sondern Herrschaft über sie ausüben.
Ich vertrete die These, dass die Bibel den Kern der so genannten „westlichen Zivilisation“ ausmacht. Das Christentum hat zu der typisch westlichen Naturwissenschaft und Technologie geführt, ebenso zu Demokratie und den Menschenrechten, zur Emanzipation der Frauen, zu Mitgefühl und Bildung.“
Wie hängen Armut, Demokratie, Technik und Religion zusammen?
„Hier in Deutschland und in den westlichen Ländern erledigt man vieles mit dem Verstand, was in anderen Ländern noch mit Muskelkraft bewegt wird. Der Westen hat die Universität erfunden, die Natur wissenschaftlich erforscht und die Technik entwickelt.
Der Hinduismus konnte nie so etwas wie eine Universität hervorbringen. Dafür gibt es u. a. folgende Gründe:
– Hindus sind überzeugt: Wissen ist das Ergebnis einer privaten mystischen Erleuchtung. Der Mensch wird nicht als endliches Wesen mit einem endlichen, begrenzten Verstand betrachtet. Deshalb geht man auch nicht davon aus, dass der Mensch darauf angewiesen ist, durch Versuche Erkenntnisse zu gewinnen und dieses Wissen in einer Gemeinschaft zu sammeln und auszuwerten.
– Man hat erkannt, dass Wissen Macht bedeutet. Und deshalb behält man dieses Wissen für sich und spart es für die eigenen Kinder oder die eigenen Anhänger auf. Man will es nicht allen zur Verfügung stellen, weil es die geheime Quelle der eigenen Macht ist. Wer seinen Nächsten nicht liebt, hat keinen Grund, dieses geheime Wissen mit ihm zu teilen.
Das Christentum dagegen lehrt, dass der menschliche Verstand „gefallen“ und endlich ist. Deshalb erscheint es nötig, dass wir gemeinsam forschen. Erkenntnis ist in diesem Denkkonzept kein privates mystisches Erlebnis, sondern wir lernen als Gemeinschaft voneinander und miteinander. So wurde Wissen gesammelt und verglichen, damit man falsche Schlussfolgerungen erkennen und korrigieren konnte.
Der Hinduismus hat auch niemals eine Mutter Theresa hervorgebracht oder die Werte, die sie verkörpert hat, gelehrt; selbst in einem Zeitraum von 5000 Jahren war er dazu nicht fähig. Auch der Islam hat in den 1300 Jahren seiner Wirkungsgeschichte keine vergleichbaren Persönlichkeiten hervorgebracht. Diese Bereitschaft, sich zu engagieren und für andere einzusetzen, fehlt dort. Eine Folge davon ist die Tendenz, dass man sich in allem an die Regierung wendet und sagt: „Ihr müsst dafür sorgen! Ihr seid dafür zuständig.“ Aber die westlichen Länder sind nicht deshalb Kulturnationen geworden, weil die Regierungen dies angeordnet hätten. Das hat seine Ursprünge letztlich im Evangelium.
Die Lehren, die wir in der Bibel finden, prägen das Denken auch in Bezug auf Technik, soziale Verantwortung und Wirtschaft.“
Können nur Christen eine erfolgreiche Volkswirtschaft aufbauen?
„Auch Länder, die keine christliche Prägung haben, können wirtschaftlich erfolgreich sein – v. a. dann, wenn natürlicher Reichtum vorhanden ist. Auf manchen Ebenen können sie vom Westen lernen – aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Die Probleme der Korruption z. B. können durch Demokratie allein nicht gelöst werden. Man kann zwar ein demokratisches System kopieren, aber die zugrunde liegende Ethik muss „von innen“ kommen. So etwas kann man nicht einfach kopieren, dazu muss das Evangelium die Menschen verändern.
Natürlicher Reichtum kann sogar zum Problem für die betreffenden Länder werden, wenn bestimmte ethische Voraussetzungen nicht vorhanden sind. Das sieht man z. B. beim Erdöl: Der Westen hatte die Voraussetzungen für die Nutzung des Öls geschaffen: Dort waren die betreffenden Industriezweige – bis hin zur Autoindustrie – entwickelt worden. So war ein Markt für diese natürlichen Ressourcen des Nahen Ostens entstanden. Aber die muslimischen Länder haben es offensichtlich nicht verstanden, diese Chancen sinnvoll zu nutzen.
Ein Land kann noch so viel Öl oder Diamanten haben – aber wenn es keine moralischen Veränderungen gibt, kann es die Korruption nicht überwinden. Dann können die Leute nicht einmal den Banken trauen – und auch der eigenen Regierung nicht. Wenn also diese anderen ethischen Voraussetzungen für das wirtschaftliche Leben fehlen – z. B. Integrität, Verlässlichkeit, Treue – dann kann das Geld, das man verdient, sogar zu einem Fluch werden.
Man kann Korruption natürlich mit Überwachung und Zwangsmethoden bekämpfen, aber dann schafft man auch die Freiheit ab. Die christliche Ethik hat es dagegen ohne solchen Zwang geschafft, ganze Nationen in einem wesentlichen Ausmaß von Korruption zu befreien. Experten stellen immer wieder fest: Länder, die von bibelorientiertem Christentum beeinflusst sind, sind weniger korruptionsanfällig. Ich bin überzeugt: Die christliche Spiritualität ist die einzige Kraft, die mit Korruption fertig wird und gleichzeitig den Bürgern die politische Freiheit lässt.“

Vishal Mangalwadi (vorne rechts) bei enem seiner Besuche im Hurlacher JMEM-Schulungszentrum
Dr. h. c. Vishal Mangalwadi, 1949 in Indien geboren, wurde auf Grund von philosophischen Vergleichen Christ. Später studierte er u. a. an indischen Universitäten Philosophie und veröffentlichte 1975 seine Forschungsergebnisse unter dem Titel „A World Of Gurus“ (auch in deutscher Übersetzung erschienen).
Von 1976 an arbeitete er in Zentralindien in verschiedenen Projekten zur Bekämpfung der Armut (landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte, medizinische Hilfsprogramme; Bildungsprojekte); gleichzeitig war er evangelistisch, politisch und publizistisch tätig. Seit einigen Jahren hält er in verschiedenen Ländern Vorträge.
Er ist verheiratet, Vater von zwei Töchtern und vierfacher Großvater.
Bei seinen Besuchen im Hurlacher JMEM-Schulungszentrum unterrichtete Vishal Mangalwadi (s. Foto) mehrmals im Rahmen des JMEM-Kurses „Schule für Biblisch-Christliche Weltanschauung“ (SBCW).
Interviewfragen und Übersetzung: Rolf-Dieter Braun
Reihe: Artikel-Archiv „Hurlacher Texte“ Nr. 20